Ich sehe, dass ich nicht sehe – Ein systemtheoretisches Grundlagenessay über Beobachtung, blinde Flecken und strukturelle Koppelung
1. Einleitung: Das Paradox des Beobachtens
Systemisches Denken beginnt oft mit einer scheinbar einfachen Frage: „Wie sehen wir die Welt?“ Doch schon der erste Schritt dieser Frage führt in ein Labyrinth rekursiver Paradoxien. Denn Beobachten ist nicht neutral, nicht objektiv, nicht direkt. Beobachten ist Unterscheiden und Bezeichnen – und damit immer auch: Ausblenden. Heinz von Foerster bringt es auf den Punkt: „Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen.“
2. Der blinde Fleck: Zwischen Erkenntnis und Selbstillusion
Die Rede vom „blinden Fleck“ ist schnell gemacht, doch selten ernst genommen. Gemeint ist dabei nicht der physiologische blinde Punkt im Auge, den Elena Esposito in Anlehnung an die Sehnervenkreuzung metaphorisch aufruft. Sondern ein epistemologischer blinder Fleck: der Ort, von dem aus ich sehe, der sich aber selbst nicht sehen lässt.
Wenn ich sage: „Ich beobachte, wie ich sehe, dass andere mich sehen“, so beobachte ich nicht, wie die anderen mich sehen, sondern nur meine eigene Vorstellung davon. Alles, was ich sehe, ist mein Sehen. Die Fremdwahrnehmung bleibt Konstruktion. Von Foersters Satz passt hier wie ein Rahmen: „Wenn du mir von einem Film erzählst, weiß ich nichts über den Film, aber viel über dich.“
3. Re-entry: Die Unterscheidung kehrt zurück
Luhmann übernimmt von Spencer-Brown den Begriff des re-entry: Das System unterscheidet zwischen sich und der Umwelt – und beobachtet irgendwann diese Unterscheidung selbst. Eine Unterscheidung kehrt in eine ihrer Seiten zurück. Doch auch hier lauert das Paradox: Wer die Grenze seiner Beobachtung beobachtet, beobachtet wieder nur aus einer neuen Perspektive, mit einem neuen blinden Fleck. Der blinde Fleck verschiebt sich, er verschwindet nicht.
4. Strukturelle Koppelung: Wunder der Anschlussfähigkeit
Systeme sind operational geschlossen, aber offen für Irritationen – sagt die Theorie. Strukturelle Koppelung beschreibt die selektive Anschlussfähigkeit zweier solcher Systeme. Doch was heißt das? Gibt es eine objektive Koppelung?
Hier setzt der Gedanke von Gunther Schmidt an: Strukturelle Koppelung ist nicht objektiv nachweisbar, sondern wird subjektiv als Auswirkung erfahren. Wenn „etwas wirkt“, wird eine Koppelung angenommen. Sie ist keine Tatsache, sondern eine Zuschreibung.
Sie ist, im Grunde, ein epistemologisches Wunder: Dass ich einen Impuls als „anschlussfähig“ wahrnehme, dass Kommunikation gelingt, dass Verstehen möglich scheint – all das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis komplexer, kontingenter Konstruktionen.
5. Von Foersters Ausweg: Humor, Radikalität, Ethik
Heinz von Foerster hatte wenig übrig für die intellektuelle Selbstverliebtheit endloser Selbstreferenz. Er wusste um das Paradox und tanzte hindurch: mit Übertreibung, Ironie, Witz und radikaler Ethik. Nicht „Was ist wahr?“, sondern: „Was macht deine Aussage möglich? Was verändert sie?“ Seine Antwort auf das Paradox war nicht eine neue Theorie, sondern ein Haltungsvorschlag:
> „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten größer wird.“
6. Fazit: Konstruktive Ungewissheit als Grundhaltung
Wer systemisch denkt, denkt nicht in Wahrheiten, sondern in Beobachtungsmodi. Wer beobachtet, beobachtet immer selektiv. Wer sich selbst beobachtet, verschiebt nur den blinden Fleck. Und wer strukturelle Koppelung beobachtet, beobachtet ihre Wirkung auf sich selbst.
Systemisches Denken ist kein Erklärungsversprechen, sondern ein Denkstil, der Verantwortung verlangt. In einer Welt voller blinder Flecken ist es vielleicht das Beste, nicht Recht haben zu wollen – sondern anschlussfähig zu bleiben.
Oder, mit einem Augenzwinkern von Heinz:
> „Ich glaube, ich sehe, wie sie mich sehen – aber eigentlich sehe ich nur mich beim Glauben.“
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