Als treuer „Deutschland Radio Kultur“-Hörer war ich begeistert, endlich mal wieder einem Beitrag zum Thema Wahrnehmungspsychologie lauschen zu dürfen. Umso enttäuschter war ich hinterher.
Es handelte sich dabei um ein Interview mit dem Psychologen Prof. Dr. Markus Kiefer (Director of the Section for Cognitive Electrophysiology an der Uni Ulm) und dessen Auffassung darüber, wie der alltägliche Gebrauch von Smartphones und Digitalkameras unsere Wahrnehmung beeinflusst, nämlich negativ.
Sendung vom July 2013 [Leider ist diese Sendung nicht mehr online].
Er vertrat die These, dass die alltägliche Benutzung dieser beiden Gerätearten unsere Wahrnehmung verarmen lässt. Dadurch, dass wir ständig und überall mit diesen Geräten Bilder machen, verändern wir uns quasi zur neuen Spezies des Homo Optikus. Während wir damals mit einer Kleinbildkamera deutlich bewusster unsere Motive ausgesucht hätten, seien wir auch mit allen Sinnen bewusster bei der Sache gewesen. Dies sei einer der Aspekte, der uns nun immer mehr verloren gehe. Darüber hinaus wären diese Bilder bzw. dass Sehen durch die Kleinbildschirme eben nur zweidimensional, was zur Folge hat, dass uns auch noch die Fähigkeiten zum dreidimensionalen Sehen abhanden gingen. Unter anderen bezieht sich Kiefer auf das Beispiel eines Konzertbesuchers. Dieser müsse häufig die Augen schließen, um sich ganz auf die Musik konzentrieren zu können. Besucher, welche die Musik mitfilmen, würden deutlich weniger von ebendieser Musik mitbekommen.
Diese Erkenntnisse würden unter anderem aus seinen Forschungen hervorgehen. „Denken ist die Simulation gemachter Erfahrungen!“ So hätte er herausbekommen, dass das gehörte Wort „Telefon“, in unserem Gehirn dieselben bzw. ähnliche „Spuren“ auslöst, als würden wir ein Telefon „klingeln“ hören. Ähnlich sei dies bei professionellen Musikern beforscht worden. Bei jenen würde das Bild einer Geige, eine ähnliche Aktivität in der Hörrinde auslösen, als wenn diese die Geige spielen oder hören. Bei Nichtmusikern sei dies nicht so und deren Denkstrukturen in dieser Hinsicht deshalb verarmt.
Markus Kiefer hat für uns aber auch einen Tipp zur Besserung: „Erleben Sie die Welt möglichst mit allen Sinnen!“ Das Gehirn sei eben keine Festplatte, der es egal ist, wo und wie die entsprechenden Daten gespeichert sind oder werden. In einer MP3-Datei könne genauso gut ein Film oder Musik gespeichert sein. Im Gegensatz dazu speichere unser Gehirn Informationen nach Sinnesmodalitäten ab.
Also lieber Leser, benutzen Sie lieber eine Kleinbildkamera, anstatt eines Smartphones!
Ich selber fragte mich nach Hören dieser Thesen spontan, ob er seine, sicherlich doch komplexeren Forschungen, für eine Radiosendung deutlich komplexitätsreduziert hat oder ob er das wirklich so simplifiziert sieht. Immerhin möchte ich nur ungern einem Professor Doktor widersprechen.
Dass wir Menschen die Tendenz haben, das dreidimensionale Sehen mehr und mehr zu verlernen, habe ich vor Jahren mal in der PM gelesen. Auch nicht gerade eine Zeitschrift, die intellektuell überfordert. Seinerzeit wurde dies aber den Fernsehern in die Schuhe geschoben. Und wenn ich mir so die Fernsehgewohnheiten des Durchschnittsdeutschen, inklusive meiner eigenen, anschaue, überzeugt mich das schon mehr. Natürlich mache ich mit Digicams und Smartphones meine Bilder viel inflationärer als mit einer Kamera, dessen Filme Geld kosten und entwickelt werden müssen. Wahrscheinliche gebe ich mir mit den modernen Geräten im Schnitt weniger Mühe. Aber dafür ist die Quantität auch wesentlich größer und damit verbunden die Wahrscheinlichkeit, wirkliche Schnappschüsse zu erreichen. Beim Fotografieren von Menschen mag dies sogar noch wesentlicher werden, habe ich über solche Schnappschüsse doch wirklich gute Chancen, dass diese authentischer und nicht so arrangiert wirken. Ob ein Nutzer einer Kleinbildkamera mit deutlich mehr Sinnen bei der Sache ist, sei erst einmal dahingestellt.
Ein Konzertbesucher, der das Konzert mitfilmt, höre die Musik weniger gut oder weniger intensiv, erscheint mir auch sehr logisch. Und dies allein schon deswegen, weil er sich auf mehr Dinge gleichzeitig konzentrieren muss, als jemand, der einfach nur zuhört. Immerhin hat er eine komplexe Technik zu bedienen, während er der Musik lauscht.
Das, was Kiefer als eine Verarmung der sinnlichen Wahrnehmung hinstellt, bezeichnen andere als konstruktive Fähigkeit zur Fokussierung. So ist es doch sogar eine überlebenswichtige Fähigkeit, aus der schier unendlichen Zahl von Außenreizen, sich bewusst auf diejenigen zu fokussieren, welche in einer gegebenen Situation wichtig(er) für uns sind als andere. Überhaupt fehlt mir bei seinen Thesen die prinzipielle Unterscheidung von bewussten und unbewussten Prozessen. Gerade eben, während ich dies schreibe, spricht mich meine Frau an und sagt: „Du hörst mir auch nicht zu, oder?“ Ich habe ihr aber nicht nicht zugehört, ich habe sie (bewusst) nicht gehört. Ich war vollständig auf das Schreiben konzentriert. Ein Familientherapeut möge mir deshalb ein Problem unterstellen. Es ist eben nicht so, dass ich verlerne etwas wahrzunehmen. Ich kann mich jedoch darauf trainieren, auszuwählen und zu filtern. Extremfälle finden wir bei der sogenannten Trance und im Traum. In diesen Situationen vernachlässigen wir die Außenwahrnehmung (fast) völlig und sind vom Innen völlig absorbiert. Dennoch nehmen wir Außenreize auf und diese werden metaphorisch, inhaltlich in unseren Traum eingebaut.
Der von Kiefer erwähnte Unterschied zwischen einem Musikprofi und -laien ist darum nicht als Verarmung auf Seiten des Zweitgenannten zu definieren. Der professionelle Fotograf wird eben Details sehen, die mir persönlich bewusst verborgen bleiben, unabhängig davon, ob dieser eine Digicam oder eine Kleinbildkamera benutzt. Der gute Schreiner halluziniert einen Maßstab auf der leeren Wand und kann Ihnen, ohne zu messen, recht genau sagen, wie breit diese ist. Ein guter Koch kann schmecken, ob zwei Gewürze in der Suppe zueinander passen, ohne diese in den Mund nehmen zu müssen. Sind wir Laien in diesen Bereichen deshalb in unserer Wahrnehmung verarmt?
Ein weiteres Problem der experimentell-wissenschaftlichen Vorgehensweise sei an dieser Stelle nur kurz angerissen: Solche Forschungen verlaufen meist idealtypisch. Kontexte, soziale Bezüge der Probanden, Erwartungshaltungen von Forscher und Proband, möglicher Einfluss der Geldgeber und Sympathisanten der Forschungsvorhaben – bleiben häufig unberücksichtigt.
Was für eine Tätigkeit üben Sie aus, lieber Leser, liebe Leserin? Was für Wahrnehmungsfähigkeiten entwickelten sie möglicherweise, um in diesem Feld gut zu sein? Und was noch schöner ist: Sie müssen sich dieser Wahrnehmungs- und Filterfähigkeiten nicht einmal bewusst sein. Sie entscheiden möglicherweise in konkreten Situationen eher intuitiv. Damit Sie dies tun können, haben Sie unbewusst eine immense Menge an sinnlichen Informationen ausgewertet.
Über welche besonderen sinnlichen Fähigkeiten muss man eigentlich verfügen, um die sinnliche Wahrnehmung zu erforschen?
Übrigens, der Festplatte ist es im Grunde genommen auch nicht so egal, wohin und wie die Daten gespeichert werden. Sie als User haben dabei auch nur beschränkte Möglichkeiten. Immerhin sollten Sie sich eine sinnvolle Ordnerstruktur überlegen, damit Sie Ihre Daten auch wieder finden. Des Weiteren, und dies entscheidet hauptsächlich der Computer und die Software, müssen Ihre Dateien mit einer spezifischen Dateiendung (.exe, .jpg, .mp3, .mp3) versehen sein, damit der Computer weiß, mit welchen Programm er sie öffnet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Computer und einem Gehirn ist meines Erachtens, dass im Gehirn Hardware und Software nicht trennbar sind.
Seit dem ich das Interview gehört habe, versuche ich vergebens meine Musik als Filme zu sehen. So kann Forschung mich in meinem Alltag behindern. Und noch etwas: Ich liebe mein Smartphone!
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