Jeden Morgen freue ich mich auf das „Politische Feuilleton“ auf DRADIOKULTUR, besonders wenn es um ein „wissenschaftliches“, physikalisches oder mathematisches Thema geht. Heute wurde die Mathematik thematisiert; hier nachzulesen(hören). Dennoch wirkte der ganze Beitrag befremdlich auf mich.
Der Autor Klaus Peter Weinert, seines Zeichens Wissenschaftsjournalist, vertritt die These, dass sich Mathematiker zu sehr aus der Verantwortung und die gesellschaftliche Debatte über Folgen ihrer Wissenschaft heraushalten.
„Kaum einer nimmt sie (die Mathematik) wahr, aber sie ist überall in unserem Alltag. Ohne Mathematik ist das Internet nicht denkbar, das Smartphone, unsere hochtechnisierten Autos oder die ampelgeregelte Kreuzung.“
Weiterhin könne die NSA ihren Job ohne Mathematik nicht tun, wie auch die Wirtschaftsökonomen,
„.. wenn sie, wie in der Finanzkrise geschehen, das Handeln von Banken und Bankern bestimmen.“
Ethik und Moral würden außen vor bleiben und Mathematiker seien eben nicht bereit, bezüglich der Verantwortung über ihr wissenschaftliches Gebiet in einen gesellschaftlichen Diskurs zu gehen.
Die angewandte Mathematik
„fragt nicht in erster Linie nach Moral, sondern ob ihr Modell logisch und stimmig ist, ob es funktioniert. Für die Toten von Nagasaki will aber kein Mathematiker verantwortlich sein. Dafür wurden die Physiker schuldig gesprochen.“
Mich überkam zunächst ein komisches Gefühl. Lag es an meiner Affinität technischer und damit auch mathematischer Dinge gegenüber? Lag es daran, etwas Abstraktes (wie Mathematik) für etwas Konkretes verantwortlich zu machen?
Nein: es sind vor allem drei Dinge, die mich an dieser Argumentation stören:
Zunächst fehlt mir wieder diese erkenntnistheoretische Unterscheidung, da der Autor mal der Mathematik selber Verantwortungslosigkeit unterstellt und dann dem Mathematiker. Lediglich auf Zweiteren passt diese Formulierung jedoch. Es ist sehr schwer eine Theorie „verantwortlich“ zu machen, wohl aber einen Anwender.
Mathematik definiere ich jedoch eher als Sprache. Mathematik ist eine Möglichkeit Wirklichkeit zu beschreiben, ein Modell oder eine Landkarte von einem Teilbereich der Wirklichkeit abzubilden. Diese Landkarte kann mir für bestimmte, häufig technische Probleme nützlich sein; für andere passt es nicht. Wenn ich Mathematik aber als „Sprache“ und Beschreibung verstehe, wird Weinert’s Argumentation gänzlich hinfällig. Dann könnte ich ebenso gut schreiben, dass sich Germanisten aus ihrer Verantwortung schleichen, da sie doch mitverantwortlich für „das hohle Geschwätz“ mancher Politiker und des radikalen Sprachgebrauchs der Rechtspopulisten sind.
Drittens, und das ärgert mich am meisten, klingt mir bei solchen Diskussionen Gregory Bateson in den Ohren. Schrieb dieser doch schon in den sechziger Jahren, das unser ganzes wissenschaftliches System von der Getrenntheit der verschiedenen Disziplinen ausgeht, so als hätte die Soziologie nichts mit dem Individuum, die Biologie nichts mit der Psychologie und auch die Mathematik nichts mit der Politik zu tun. Dies fördert „Fachidioten“, die sicherlich sehr wichtig sind, aber fördert leider auch ganz allgemein, dass sich die Fachleute der verschiedenen Disziplinen aus unterschiedlichen Verantwortungen verabschieden können. Nur so kann der Mathematiker die Schuld an Nagasaki an den Physiker abgeben, der Physiker reicht sie an die Politiker weiter, die Politiker an den „Krieg“ oder den „Feind“, der Feind an die gesellschaftlichen Verhältnisse ….
… bis dann doch Gott an allem Schuld ist? Ist Gott vielleicht der (erste) Mathematiker? Was meinen Sie dazu?
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